Von Cannes nach Hamburg: Filmpremiere Toni Erdmann
von Gila Thieleke, 16.07.2016
“Bist Du eigentlich glücklich?”. Diese Frage stellt Winfried seiner Tochter Ines, als er sie überraschend in Rumänien besucht. Sie beantwortet seine Frage nicht, stellt sie ihm stattdessen zurück. Und lässt ihn alleine im Spa zurück.
Winfried (Peter Simonischek) und Ines (Sandra Hüller) trennen nicht nur räumlich Länder. Er ist ein lebenslustiger Musiklehrer, der in jeder für ihn passenden Situation für ein Späßchen sein Gebiss aus Plastik hervorholt. Die kontrollierte Ines hingegen macht als Unternehmensberaterin Karriere und lebt von Projekt zu Projekt, von Präsentation zu Präsentation. Als Winfried überraschend bei ihr in Rumänien auftaucht, kommt die Kluft zwischen Vater und Tochter so richtig zum Vorschein. Die beiden verstricken sich in Auseinandersetzungen mit denen sie sehr unterschiedlich umgehen. Winfried reist ab. Als Coach “Toni Erdmann” verkleidet erscheint er jedoch wieder auf der Bildfläche.
Jeder Zuschauer zieht sich sicherlich etwas anderes aus dem Film. Hängengeblieben ist mir eine scheinbar unauffällige Szene. Nach einem aus Ines Sicht gescheiterten Wochenende mit ihrem Vater, verabschieden sich die beiden. Ines steht oben auf dem Balkon, unten an der Straße steigt Winfried ins Taxi. Sie beginnt zu weinen. Voller Härte erschien mir das Verhalten der Tochter, voller Abweisung. Doch was spiegelt sich in diesem Weinen wider… Mitleid, mit dem von Dannen ziehenden Vater? Enttäuschung über seinen Egoismus? Oder über die eigene Abweisung? Angst, im Job zu versagen? Es erinnert mich an Szenen aus der Kindheit, in denen wir unglücklich waren, schrien, weinten, die Mutter wegschubsen doch insgeheim nur eines wollen: Dass sie zurückkommt und uns in den Arm nimmt. So wirkt Ines am Geländer stehend wie ein kleines Mädchen in der großen globalisierten Karriere-Welt, in der sie beruflich augenscheinlich bestens klarkommt, jedoch zwischenmenschlich nicht. Und nun auch noch den (einzigen?) Menschen abweist, der versucht für sie da zu sein.
Von diesen Schlüsselszenen gibt es im Film einige – Regisseurin Maren Ade lässt dem Zuschauer viel Spielraum für eigene Gedanken und Erinnerungen. Nicht nur von den Bildeinstellungen und der Kameraführung ist Toni Erdmann authentisch gedreht. Vor allem die Schauspieler brillieren durch eine natürliche Darbietung, die direkt aus dem Leben stammen könnte. Dadurch wird beim Zuschauen das Mitdenken, Mitfiebern, das Mitfühlen umso mehr verstärkt. Man wird in den Bann gezogen von dem skurrilen Vater und seiner unterkühlten Tochter. Der geniale Wechsel aus Tragik und Komik sorgt für einen ebenso interessanten Wechsel aus ruhigen Momenten und völliger Euphorie. Szenenweise grölt das Publikum im Sekundentakt. Die besondere Inszenierung ist sicherlich ein Grund, weshalb der Streifen auch bei den Filmfestspielen in Cannes überzeugte und das Münchener Filmfest eröffnete.
…Auch wenn wir schnell mal ein “die Welt aus anderen Augen betrachten” über die Lippen bringen. Wann tun wir das schon wirklich? Wie oft unterhalten wir uns mit Menschen auf der Straße, wie oft versuchen wir uns in die Bürde eines Adligen hineinzudenken. Wie häufig fahren wir in ein anderes Land, um mit Menschen, die wir vorher nicht kannten, zu leben. Ihre Kultur nicht von einem All Inklusive Komplex aus zu belächeln, sondern einzutauchen und zu verstehen. Toni Erdmann zeigt uns eine andere Art die Welt zu sehen, er nimmt uns mit, zieht uns in seine Welt. Auch wenn er sich dann und wann in den Humor flüchtet, ernsthafte Auseinandersetzungen vermeidet, so zeigt er uns eine leichtlebige Sicht auf die Dinge und einen tolerant, freien unvoreingenommenen Weg auf Menschen zuzugehen.
Toni Erdmann ist für mich persönlich ein Appell an die Menschen und für das Anderssein. An das Humorvolle, das Skurrile. Nicht immer den sicheren Weg zu gehen. Und wenn wir den gesellschaftskonformen oder karriereorientierten Weg einschlagen, die kleinen Eskapaden und Ausrutscher nicht zu vergessen, die unseren Pfad erst richtig schön bescheuert machen. Toni Erdmann ist ein Appell für Lebendigkeit und Kreativität. Für Verständnis. Eine Ode an das lebendige Leben. Und vor allem eines: Menschlichkeit.
Während des Films liegt eine Frage offen im Raum: Lässt die teils abweisende, kühle Tochter ein wenig Albernheit zu. Und wird Winfried ihr eine ernsthafte Antwort auf die Frage geben, was ihn glücklich macht?