Der Kiez. Unsere Reeperbahn. Unsere Kultur?
von Jenny Hanf, 19.06.2020
Pssst, rutscht näher heran, dann verrate ich euch ein Geheimnis! Noch näher! Heute erzähle ich euch etwas über die Sünden in Hamburg.
Wie ihr ja bestimmt wisst, hat Hamburg einiges an Kunst, Sehenswürdigkeiten und Kultur zu bieten. Dazu gehört auch die sogenannte sündige Meile, unsere Reeperbahn mit dem St. Pauli Theater und der bundesweit bekannten Polizeistation, der Davidwache.
Wir Hamburger sind stolz auf unsere schöne Stadt und wir freuen uns auf Besucher jeder Couleur. Nun kommen die sensationellen Geheimnisse, das ist nichts für schwache Nerven! So unglaublich, dass ich euch jetzt die Gelegenheit gebe, diesen Artikel wegzuklicken, oder die Augen zuzuhalten. Lesen ist wunderbar und ein Teil der persönlichen Freiheit unserer Demokratie. Kann man machen, muss man aber nicht.
Noch da? Schön, weiter im Text. Haltet euch fest.
* Burger King auf der Reeperbahn, gegenüber der berühmten Davidwache, ist nicht die kulinarische Krönung von Hamburg * Die Herbertstraße ist kein Ausflugsziel mit Aussichtsplattform für Selfie-Süchtige * Die Davidwache ist keine Theaterkulisse * Das Waffenverbot ist kein Aprilscherz *
Rückblick. Vor vierhundert Jahren entstand die große Freiheit inmitten der Hansestadt für Matrosen, Reepschläger, also Taumacher und all jenen, die am Rande der Gesellschaft lebten. Der heutige Spielbudenplatz war damals das Zentrum der Zurschaustellung von entstellten, armen Kreaturen, die sich ein Zubrot verdienen wollten. Prostitution und Gaukelei in einem unansehnlichen Stadtviertel, Dreck und Gestank dominierten das illegale Treiben. Mit der Besetzung durch die Franzosen 1723 wurde die Prostitution legalisiert und der Kiez wuchs auf mehreren Ebenen zum Vergnügungsviertel. In den 60er Jahren waren „Sex, Drugs & Rock`n Roll“ an der Tagesordnung, Jimi Hendrix, die Beatles, sie kamen und prägten die 930 Meter lange Reeperbahn.
Die starke Anziehungskraft für Besucher galt nicht nur den Clubs, Theatern und Bordellen, sondern auch Bandenkriege, Frauenmorde, Zuhälter und Drogen färbten das Rotlichtmilieu immer wieder schwarz. Das Verruchte wurde gesellschaftsfähig, getrieben von Neugier und Schaulust.
Das mehrschichtige Leben im Dunkeln pulsierte, legal oder illegal und die Besucherzahl wuchs und spülte Unmengen Geld in unsere Kassen. In den 80ern kam Kultur und mit ihnen die kultigen Docks, die Theater, prominente Schauspieler gaben unserem Kiez ein Gesicht. Otto Normalverbraucher gönnten sich in schummrigen Bars Striptease von der Stange und genossen die Reeperbahn, so wie sie war – bunt, vergnüglich, kultig mit käuflichem kurzweiligen Glück. Ein verruchtes, schillerndes Plätzchen, direkt an der Elbe inmitten unsere schönen Hansestadt.
Heute fluten bis zu 30 Millionen Besucher im Jahr die Straßen von St. Pauli, größtenteils Touristen, die mittlerweile zur Horde Schaulustiger geworden sind. Der Promillewert jenseits von Gut und Böse, dank der 57 Kioske, die gerne flaschenweise Alkohol an Feierlustige verkaufen. Es wird die „Kiosk Epidemie“ genannt, dazu kommen 40 Bordelle, 26 Diskotheken und 10 Sexshops. Das Kulturgut Theater kann man an einer Hand abzählen, und diese kämpfen um jeden zahlenden Gast. Dafür explodieren die Rotlicht-Stadtführungen, geführt von regional bekannten Drag Queens wie Lilo Wanders oder Olivia Jones. Man erkennt Touristen leicht, in Jack Wolfskin Jacken eingehüllt, das Smartphone auf Augenhöhe, bereit für einen Schnappschuss. So einige Prostituierte sind ja fotogen. Ob sie wollen oder nicht. Höhepunkt der Stadtführungen ist das Eingangstor zur Herbertstraße, dort arbeiten 250 Frauen als Prostituierte und bieten ihre Dienste in Schaufenstern an. Ein Tor mit der Aufschrift: „Für Jugendliche und Frauen ist der Zutritt verboten“ verschließt neugierige Einblicke. Das hält nur wenige Frauen ab, den Ehemann im Schlepptau, sich der Sensationsgier hinzugeben.
Nun, das nennt sich wohl individuelle Freizeitgestaltung.
Wie komme ich eigentlich auf die absurde Idee, unsere bunte Kiez Kultur wäre gefährdet?
Der Bezirksamtschef Falco Droßmann (SPD) sieht zwar die vielfältige Kultur auf St. Pauli bedroht, zitierte aber: „Das alte St. Pauli verschwindet leider langsam, der Kiez müsse sich selber neu finden. Es liegt nicht an der Stadt, sondern die Grundeigentümer setzen die Kulturlandschaft auf dem Kiez aufs Spiel, weil versucht wird jeden Quadratmeter in Geld umzuwandeln.“ Ich dachte immer, Stadtplanung und Vergabe von Konzessionen seien Aufgabe der Politik, aber vielleicht steht dem guten Willen die Gewerbesteuern im Weg? Immerhin ist der Umsatz von Alkohol lukrativer als die der Kleinkunstbühnen. Ja, es gibt die Gewerbefreiheit, also freies Unternehmertum, aber auf wessen Rücken wird das ausgetragen? Zudem lockerte der CDU Senat die Ladenschlusszeiten auf unserem Kiez für die Kioske und Supermärkte, und tröpfelte damit Öl ins Feuer.
Das erinnert ein wenig an “Panem et circenses” – Brot und Spiele für das Volk, besser gesagt Dosenbrot und Doktorspiele, um diese von Protesten abzuhalten und sich zu sehr für Politik zu interessieren.
Wir sind das, was wir konsumieren. Wäre es nicht wunderbar, das schillernde Spektrum zu erhalten und wir vorher überlegen, wie wir unser sauer verdientes Geld investieren?
Was wird aus der sündigsten Meile Hamburgs, wenn sich weiterhin Fast Food Läden, Souvenir- und Sex Shops sowie Kioske nahtlos aneinander reihen?
Unsere Reeperbahn! Unsere Kultur. Unser Konsum? Unsere Entscheidung!