Intimität und Verletzlichkeit – Peter Lindberghs Untold Stories
von Sophie Martin, 12.08.2020
Kraft, Ästhetik, Ausdruck und Eleganz – dafür steht der Name Peter Lindbergh. Als angehende Fotojournalistin bin ich eine große Bewunderin seines Werkes.
Er ist für mich ein Vorbild, ein Idol, jemand, von dem ich noch viel lernen kann. Durch das aufmerksame Betrachten seiner Bilder erfahre ich so einiges über Bildsprache, über Bildkomposition, über Perspektive und den gekonnten Einsatz von Licht. Der Blick auf seine Bilder ist wie eine Flucht, wie ein angenehmes und wohltuendes Entkommen aus der Realität.
Als feststand, dass meine Kommilitonen und ich die diesjährige Peter-Lindbergh-Ausstellung unter dem Titel Untold Stories im Museum für Kunst und Gewerbe am Hamburger Hauptbahnhof besuchen werden, habe ich mich also mehr als gefreut.
Schwarzweißfotografien in überdimensionaler Größe
Für mich war es mein erster Besuch dort. Als ich das Gebäude betrat, war ich zunächst beeindruckt von der Imposanz und Großzügigkeit der Räumlichkeiten. Über eine Wendeltreppe gelangt der Besucher in den ersten Stock des Museums. Mit dem Gang über diese Treppe beginnt Lindberghs Ausstellung: An den runden, gewölbten Wänden hängen seine Schwarzweißfotografien in überdimensionaler Größe, eines neben dem anderen, ohne Platz dazwischen. Ich bleibe auf der Treppe stehen, bin zutiefst berührt von seinem Werk und komme aus dem Staunen nicht mehr raus. Denn die Bilder erzählen Geschichten – Geschichten von Nähe, Intensität und tiefen Vertrauen der abgebildeten Personen zu ihrem Fotografen.
Lindberghs Leben
Lindbergh ist 1944 in Duisburg geboren. Als junger Mann reiste er viel, unter anderem durch Frankreich, Spanien und Marokko. Zunächst studierte er freie Malerei an der Werkkunstschule in Krefeld. 1971 wandte er sich schließlich der Fotografie zu. Sieben Jahre später zog der Künstler nach Paris. Dort startete seine internationale Karriere. Er begann für namenhafte Magazine wie für die Vogue, die Vanity Fair oder auch The New Yorker zu fotografieren. Schnell fand der Fotograf sein Faible für die Schwarzweißfotografie und ließ sich von frühen deutschen Filmen sowie der Berliner Kunstszene der 1920er Jahre inspirieren. Vor seiner Kamera posierten die ganz Großen wie Mick Jagger, Tina Turner, Madonna, Linda Evangelista und Naomi Campbell. Verstorben ist Lindbergh am 3. September 2019. Er hinterlässt vier Söhne und eine Ehefrau.
Es ist seine zweite Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe. Bereits 1998 stellte er hier in Hamburg aus. Das Besondere an der aktuellen Ausstellung ist, dass Lindbergh diesmal auch die Rolle des Kurators übernimmt. Und diese Aufgabe meisterte er mit Bravour. Insgesamt sind 140 Arbeiten des Ausnahmekünstlers zu bestaunen. Sie reichen von den frühen 1980er Jahren bis in die Gegenwart. Ein Großteil der Aufnahmen dieser Ausstellung wurden bis dato noch nicht öffentlich gezeigt. Andere wiederum wurden von namenhaften Magazinen wie der Vogue oder auch dem Rolling Stone in Auftrag gegeben und veröffentlicht.
Karen Elson vor der Kamera
Besonders angetan bin ich von einer Fotografie von Karen Elson aus dem Jahr 1997 aufgenommen in Los Angeles. Karen Elson ist ein englisches Model und eine erfolgreiche Sängerin. Ich bleibe bestimmt eine Viertelstunde vor dem Bild stehen und betrachte es intensiv und aufmerksam. Die Fotografie zeigt Karen Elson nackt. Sie fängt einerseits auf wunderbare Art und Weise die Verletzlichkeit, die Intimität dieser Frau ein. Andererseits wirkt Karen Elson aber auch sehr stark, sehr selbstbewusst und kraftvoll. Es ist dieser Kontrast, dieser Widerspruch, der das Bild für mich so ausdrucksstark, so intensiv erscheinen lässt.
Ich schlendere weiter durch die Räumlichkeiten, lasse die zahlreichen Schwarzweißfotografien auf mich wirken und stelle wieder einmal fest, dass Lindbergh ein hervorragendes Auge besitzt – ein Auge, welches es ihm ermöglicht, tief in das Innerste seines Gegenübers einzudringen, um dessen Charakter, dessen Persönlichkeit festzuhalten. Er ist ein fantastischer Beobachter, dem es immer wieder gelingt, im richtigen Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Dadurch fängt er besondere Momente ein und hält diese mit seiner Kamera für die Ewigkeit fest.
Lindberghs Frauenbild
Was mir bei dem Rundgang durch die Ausstellung auffällt, ist, dass Lindbergh es liebt, Frauen zu fotografieren. Seine Bilder zeigen ganz deutlich, dass der Umgang mit Frauen zu seinen besonderen Talenten zählt. Sie vertrauen ihm und es gelingt Lindbergh dadurch, sie von ihrer verletzlichen Seite zu zeigen, während sie neben Eleganz und Anmut gleichzeitig auch Stärke und Kraft ausstrahlen. Und: Seine Bilder der Frauen offenbaren, dass er auch ein fotografischer Pionier ist. Es ist ihm gelungen, die klassische Modefotografie mit der zeitgenössischen Kultur zu verbinden und gleichzeitig neu zu definieren, neu zu inszenieren. Außerdem ist Lindbergh Zeitzeuge: Die abgebildeten Frauen entsprechen dem klassischen Frauenbild der 80er und 90er Jahre. Sie sind allesamt sehr schlank, fast schon dürr, haben lange Beine und ein hübsches Gesicht.
Ich vergesse alles um mich herum, vergesse die Zeit, den Ort, bin völlig im Bann von Lindberghs Bilder. Sie haben etwas Zauberhaftes, wirken einerseits wie Kunst während sie auf der anderen Seite sehr real sind. Es ist diese Mischung, die mich so fasziniert.
Nach gut zwei Stunden verlasse ich die Ausstellung. Ich kann jedem, der sich für Fotografie interessiert, nur nahelegen, sich diese Sammlung wunderbarer Bilder anzuschauen. Ich bin auf jeden Fall zutiefst beeindruckt von der Kraft, Ästhetik, dem Ausdruck und der Eleganz Lindberghs Bilder.
Die Ausstellung Untold Stories ist noch bis zum 1. November 2020 im Museum für Kunst und Gewerbe am Steintorplatz zu sehen. Das Museum hat Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet, am Donnerstag von 10 bis 21 Uhr. Die Karten kosten regulär 12 Euro und ermäßigt 8 Euro. Der Eintritt für unter 18-Jährige ist frei.